„Erhaben ist Allāh, der König, der Wahre! Und übereile dich nicht mit dem Koran, bevor dir seine Offenbarung vollständig eingegeben worden ist. Und sag: Mein Herr, lasse mich an Wissen zunehmen.“ (Sūrat Ṭā Hā, 20:114)

Alles Lob und jeder Dank gebührt Allāh allein, der dem Menschen gelehrt hat, was er nicht wusste, und ihn zur Überzeugung und der Anbetung Seiner Herrlichkeit geführt hat.

Die Barmherzigkeit, der Segen und der Frieden Allāhs seien mit dem besten der Gesandten Muḥammad صلى الله عليه وسلم, unserem uns leitenden Vorbild und Fürsprecher am Tage des Gerichts, der als Barmherzigkeit für alle Menschen ungeachtet ihrer Sprache, ihrer Herkunft oder ihrem Aussehen entsandt wurde.

Er صلى الله عليه وسلم sagte: „Wem Allāh Gutes vorgesehen hat, dem schenkt er tiefes Wissen in der Religion.“ (al Muwaṭṭaʾ, 2623)

Die Barmherzigkeit, der Segen und der Frieden Allāhs seien mit seiner Familie, seinen Gefährten, seinen Ehefrauen und allen, die ihm صلى الله عليه وسلم und ihnen auf beste Art und Weise folgen.

1. Einleitung: Die Führungskrise unserer Zeit

Wir leben in einer Zeit, in der sich viele Muslime führen lassen, ohne dass sie erkennen, wohin sie
geführt werden. In einer globalisierten Welt voller Stimmen, Meinungen und Ideologien fehlt es der
Umma oft an einer klaren ethischen, geistigen und praktischen Orientierung. Politische Instabilität,
soziale Spaltung, moralische Verwirrung und der Verlust kollektiver Verantwortung sind Symptome
einer tiefer liegenden Krise: der Abkehr vom prophetischen Führungsmodell.
Führung ist im Islam kein Privileg, sondern eine Bürde. Sie ist kein Machtinstrument, sondern eine
dienende Verantwortung.

Die Offenbarung des Korans und die Entsendung des Propheten صلى الله عليه وسلم brachten nicht nur eine Botschaft, sondern auch ein vollkommenes Modell, wie man Menschen mit Weisheit, Geduld und Gerechtigkeit führt.

Doch dieses Erbe ist vielerorts vergessen worden.

2. Was ist Führung im islamischen Verständnis?

Wahre Führung beginnt mit einer inneren Unabhängigkeit: der völligen Befreiung von der
Abhängigkeit gegenüber Menschen, Systemen oder Interessen und der vollständigen Ergebenheit
gegenüber Allāh allein. Denn nur Ihm gehört die absolute Souveränität, nur Sein Urteil zählt im
Letzten. Diese Rückbindung an Allāh ist der erste Schritt zu aufrichtiger Verantwortung. Sie schützt
davor, aus Eigeninteresse zu handeln, sich politischen oder finanziellen Strukturen zu unterwerfen oder sich fremden Werten zu ergeben.

Der Islam versteht Führung nicht als Herrschaft über andere, sondern als aufrichtige Verantwortung für das Wohl der Anvertrauten.

Von Ibn ʿUmar (r) wird bereichtet, dass der Gesandte Allāhs صلى الله عليه وسلم sagte: „(Aufgepasst!) Jeder von euch ist ein Hirte,und jeder ist verantwortlich für seine Herde.“ (Muslim, 1829)

Der Führer ist derjenige, der zuerst mit gutem Beispiel vorangeht und sich vor Allāh für das ihm
Anvertraute verantworten muss. Er ist nicht der Erste im Ansehen, sondern der Erste im Dienst, in
der Sorge, im Opfer. Die Begriffe ṣidq (Wahrhaftigkeit), amāna (Vertrauenswürdigkeit) und wafāʾ (Erfüllung des Versprechens) bilden den Kern. Die Führung ist Treuhandschaft, die im Diesseits getragen und im Jenseits abgerechnet wird. Um eine solche Verantwortung tragen zu können, erfordert es ein besonderes Maß an Selbstabrechnung (muḥāsabat an-nafs) und Selbstdisziplinierung (muǧāhadat an-nafs).

Von Šaddād ibn Aws (r) wird berichtet, dass der Prophet صلى الله عليه وسلم sagte: „Der Kluge ist derjenige, der sich selbst zurRechenschaft zieht und für das arbeitet, was nach dem Tod kommt. Der Schwache aber ist derjenige, der seiner Seele ihren Neigungen folgt und sich dabei (bloß) Wünsche gegenüber Allāh macht.“ (at-Tirmiḏī, 2459)

3. Der Prophet صلى الله عليه وسلم als Führer: Eigenschaften & Prinzipien

Ein Prophet ist nicht einfach ein religiöser Lehrer, sondern ein von Allāh ernannter Führer für die Menschheit. In der Disziplin ʿAqīda (islamische Glaubenslehre) werden vier wesentliche Eigenschaften (ṣifāt) genannt, die jeder Prophet besitzen muss – und die zugleich das Fundament prophetischer Führung bilden:

a) ṣidq – Wahrhaftigkeit

Ein Prophet spricht stets die Wahrheit. Seine Aussagen über Allāh, das Jenseits, die Offenbarung und alles, was er übermittelt, sind frei von Lüge. Diese absolute Wahrhaftigkeit schafft Vertrauen, Glaubwürdigkeit und Klarheit.

b) amāna – Vertrauenswürdigkeit

Propheten verraten niemals ein anvertrautes Gut, weder materiell noch spirituell. Sie handeln aus reiner Absicht und im Dienst der Wahrheit, ohne Eigennutz. Diese amāna macht sie zu Vorbildern für alle, die Verantwortung tragen.

c) tablīġ – Vollständige Verkündung
Ein Prophet verschweigt nichts von dem, was ihm offenbart wurde. Er übermittelt die Botschaft Allāhs vollständig, ohne Angst vor Kritik oder Ablehnung. Diese Bereitschaft, die Wahrheit offen auszusprechen, ist unerlässlich für jede Führung, die auf Prinzipien basiert.

d) faṭāna – Klugheit
Ein Prophet verfügt über Klugheit und Weitsicht. Er erkennt Situationen richtig, wählt passende Mittel und kommuniziert auf eine Weise, die Menschen erreicht und bewegt. Prophetische Führung ist nicht naiv, sondern tief durchdacht und strategisch im besten Sinn.
Diese vier Eigenschaften – ṣidq, amāna, tablīġ & faṭāna – sind nicht nur Merkmale der Gesandten
Allāhs, sondern Maßstäbe für jede Führungspersönlichkeit, die im Lichte der Prophetie handeln will.

Weiter gibt uns Allāh in der Offenbarung und der Prophet صلى الله عليه وسلم in seiner Praxis weitere Grundlagen für ein islamisches Führungsmodell. Dazu gehören unter anderem:

e) Umfassende Vision
Der Prophet صلى الله عليه وسلم kam nicht nur, um zu leiten, sondern um zu läutern. Seine Botschaft war geistig, moralisch und umfassend. Er führte die Menschen aus der Dunkelheit ins Licht, durch Läuterung, Lehre und Anwendung.

Allāh sagt: „Er ist es, Der unter den Analphabeten einen Gesandten aus ihrer Mitte geschickt hat, der ihnen Seine Zeichen verliest, sie reinigt und sie das Buch und die Weisheit lehrt, obwohl sie sich zuvor wahrlich in deutlichem Irrtum befanden.“ (Sūrat al-Ǧumuʿa, 62:2)

Der Qurʾān und die prophetische Verkündigung dienten als Maßstab zur inneren und äußeren Läuterung. Die Methodik des Propheten صلى الله عليه وسلم war es, Menschen zur Anbetung ihres Schöpfers zu führen, die Gebote umzusetzen und die Dinge mit Weisheit an den rechten Ort zu bringen. Diese umfassende, visionäre Führung verband spirituelle Tiefe mit konkreter gesellschaftlicher Reform.


f) Charakterliche Größe durch Güte & Barmherzigkeit

Die prophetische Führung war nicht auf Einschüchterung, Zwang oder Dominanz aufgebaut, sondern auf edlem Charakter. Der Qurʾān beschreibt ihn:

„Und gewiss, du befindest dich auf hohem Charakter.“ (Sūrat al-Qalam, 68:4)

Und weiter heißt es: „Durch Erbarmen von Allāh bist du mild zu ihnen gewesen; wärst du aber schroff und hartherzig, so würden sie wahrlich rings um dich auseinandergelaufen. Sei verzeihe ihnen, bitte für sie um Vergebung und berate dich mit ihnen in den Angelegenheiten. Wenn du dich dann entschlossen hast, so vertraue auf Allāh. Gewiss, Allāh liebt diejenigen, die sich auf Ihn verlassen.“ (Sūrat Āl ʿImrān, 3:159)

Sanftmut, Geduld, Nachsicht und Standhaftigkeit machten ihn zu einem Halt für seine Gefährten und zu einem Erzieher für die Menschheit.

g) Beratung (šūrā) & Einbindung

Der Prophet صلى الله عليه وسلم war kein Alleinherrscher. Er suchte den Rat seiner Gefährten, hörte ihnen zu und band sie aktiv in Entscheidungsprozesse ein. Selbst in Krisenzeiten hielt er an der Beratung fest. Die Offenbarung ordnet dies ausdrücklich an:

„Sei nachsichtig mit ihnen, bitte für sie um Vergebung und berate dich mit ihnen in den
Angelegenheiten. Wenn du dich dann entschlossen hast, so vertraue auf Allāh.“ (Sūrat Āl ʿImrān, 3:159)

h) Gerechtigkeit als Grundpfeiler

Führung im Islam ist untrennbar mit ʿadl (Gerechtigkeit) verbunden. Allāh verpflichtet die
Gläubigen ausdrücklich zur gerechten Urteilsfindung, selbst wenn es gegen nahe Angehörige oder eigene Interessen geht. Gerechtigkeit gilt auch gegenüber den Feinden. Dieses Prinzip schützt vor Unterdrückung, Willkür und Machtmissbrauch. Es schafft Vertrauen, Ordnung und Stabilität.

„Gewiss, Allāh gebietet euch, die anvertrauten Güter denjenigen zurückzugeben, die ihrer würdigsind, und wenn ihr zwischen den Menschen richtet, mit Gerechtigkeit zu richten. Gewiss, Allāhermahnt euch zu etwas Hervorragendem. Gewiss, Allāh ist Allhörend und Allsehend.“ (Sūrat an Nisāʾ, 4:58)

„O die ihr glaubt, seid standhaft für Allāh und seid Zeugen für die Gerechtigkeit. Und der Hass auf ein Volk soll euch nicht davon abhalten, gerecht zu handeln. Seid gerecht – das steht der Gottesfurcht näher. Und fürchtet Allāh! Gewiss, Allāh ist Kundig dessen, was ihr tut.“ (Sūrat al Māʾida, 5:8)

Diese Verse bilden das moralische Fundament jeder islamischen Verantwortung und
Führungsaufgabe.

i) Wissen (ʿilm) als Grundlage jeder Verantwortung

Wenn der Prophet صلى الله عليه وسلم jemandem eine Führungsaufgabe übertrug, so wählte er ihn in erster Linie nach Wissen und Reife aus. Wer führt, muss das Fundament seiner Religion kennen. Das Wissen um Qurʾān, Sunna und die Rechte und Pflichten im Islam ist Voraussetzung für jede Führungsrolle.
In unserer Zeit heißt das: Wir dürfen niemandem Verantwortung überlassen, über den wir nicht wissen, wer er ist, was er weiß, wie er lebt und ob er über das nötige Grundwissen und die Bereitschaft zur Gottesfurcht verfügt.

4. Warum hat die Umma dieses Führungsmodell vergessen?

Kult um Köpfe statt Orientierung an Charakter: Wir bewundern Redner, Influencer oder
politische Akteure, ohne zu fragen: Folgen sie dem Vorbild der Propheten? Statt nach ṣidq, amāna und ʿilm zu schauen, lassen sich viele Muslime von Rhetorik, Medienpräsenz oder äußerer Erscheinung beeindrucken.

Beispiel: Ein Redner mit großer Follower-Zahl macht online „Daʿwa“, nutzt dabei aber bewusst polarisierende Begriffe, greift Gelehrte an und missachtet islamisches Etikett. Trotzdem gilt er für viele als „mutig“ oder „Löwe“, obwohl seine Aussagen im Widerspruch
zur prophetischen Ethik stehen.

Gegenbeispiel: Der Prophet صلى الله عليه وسلم war gemäßigt im Ton, selbst in Konfrontationen. Seine Stärke lag im ḥilm (Nachsicht), nicht in Lautstärke oder Provokation. Selbst bei seinem Einzug in Mekka blieb er demütig und barmherzig und ließ sich zu keiner persönlichen Abrechnung oder Beleidigung hinreißen.

Struktureller Verfall: Viele Gemeinschaften haben keine tragenden Institutionen, keine
systematische Bildung, keine Führungsethik. Muslimische Gemeinschaften arbeiten oft ohne
verbindliche Lehrpläne, ohne methodische Schulung ihrer Imame oder Leitungspersonen und ohne Transparenz und Rechenschaft.

Beispiel: In einer Moschee wird alle paar Jahre ein neues Leitungsteam gewählt – ohne klare Kriterien, ohne Schulung oder Vision. Die Programme wechseln willkürlich, der Imam ist schlecht bezahlt, das Gemeindeleben hängt von einzelnen engagierten Personen ab. Jugend, Frauen, Bildung? Es fehlt an einem durchdachten Konzept.

Gegenbeispiel: Der Prophet صلى الله عليه وسلم baute nachhaltige Strukturen auf: Er bildete die ahl aṣ-ṣuffa, schulte seine Gefährten methodisch, delegierte Aufgaben nach Fähigkeiten und setzte Vertreter ein und das nicht nach Lautstärke, sondern nach Vertrauenswürdigkeit und Kompetenz.

Anpassung statt Haltung: Viele Anführer kompensieren ihre religiöse Schwäche durch
politische Spielräume. Um Fördermittel, Anerkennung oder Schutz zu erhalten, stellen sie
islamische Grundwerte zurück, meiden klare Worte oder verwässern zentrale Inhalte.

Beispiel: Ein islamisches Zentrum meidet inhaltlich sensible Themen wie Fasten, ḥiǧāb oder Palästina, um gute Beziehungen zur Stadt zu wahren, während intern Unzufriedenheit über die Beliebigkeit und Selbstzensur wächst.

Kontrast: Der Prophet صلى الله عليه وسلم bot den Quraisch keine politischen Kompromisse an, etwa Machtteilung oder Toleranz gegenüber Götzendienst, sondern hielt mit Klarheit und Würde an der Verkündung fest: ohne Hass, aber auch ohne Beliebigkeit.

Entkopplung von Wissen und Spiritualität: Intellektuelle Eliten orientieren sich nicht mehr
an der prophetischen Ethik, sondern an Machbarkeit, Strategie und Nutzen. Sie reden über
Religion, ohne Gottesfurcht, Demut oder persönliche Reue. Doch Wissen ohne Demut bringt keine Führung, sondern nur Stolz und Entfernung vom Erbe der Prophetie.

Beispiel: Ein muslimischer Akademiker hält brillante Vorträge über Kalām, Gender oder Hermeneutik, betont aber öffentlich, dass religiöse Praxis „nicht zwingend“ sei. Seine Haltung wirkt kühl und arrogant und ohne spirituelle Tiefe, ohne dienende Haltung.

Gegenbild: Die Gefährten verbanden Wissen mit Tränen,
Diskussion mit Demut. Ziel war eine nützliche, dienende, wissensbasierte Religionspraxis und keine akademische Übung ohne Herz.

5. Was bedeutet prophetische Führung heute?

a) Individuell:
Jeder Muslim ist ein Verantwortlicher. Prophetische Führung beginnt in der Familie, im Gebet, im Charakter. Eltern, Lehrer, Ehrenamtliche, Prediger, alle können in ihrem Umfeld ein Propheteninspiriertes Ethos verkörpern: mit Gerechtigkeit, Geduld und Gottverbundenheit.

b) Institutionell:
Wir brauchen eine neue Generation von Führungspersönlichkeiten, die dienende Autorität verkörpern:

  • gebildet & geistlich gereift,
  • emotional reif & sozial fähig,
  • fest in der Sunna verankert und offen für die Realität der heutigen Umma.

c) Geistig-intellektuell:
Das Studium von Ḥadīṯ & Sīra darf nicht zur nostalgischen Erzählung verkommen. Es muss als Handlungsanleitung, als ethischer Kompass für Führung neu entdeckt werden. Wer prophetische Führung lebt, folgt einem Mann, der seine Gefährten nicht beherrschte, sondern sie erhob.

6. Fazit

Der Koran und die Sunna sind nicht nur Texte, sie bilden ein Modell. Dieses Modell ist nicht bloß Geschichte, sie ist eine Antwort auf die Gegenwart.

Der Prophet Muḥammad صلى الله عليه وسلم führte mit Herz, mit Verstand, mit Gottesfurcht. Wer heute Führung übernehmen will – ob in der Moschee, in der Familie, in der Gesellschaft – muss bei ihm beginnen. Bei seinem Charakter, seiner Geduld, seiner Klarheit, seiner Liebe.

Denn: Wir haben kein größeres Erbe als ihn صلى الله عليه وسلم und kein größeres Versäumnis, als dieses Erbe nicht zu leben.

Der Friede und Segen seien auf unserem geliebten Propheten, unserem Anführer und Fürsprecher am Tag des Gerichts صلى الله عليه وسلم.

Anmerkung:

Dieser Text ist kein abschließender Artikel, sondern ein erster theoretischer Zugang zum Thema „prophetische Führung“. Viele Punkte müssten weiter konkretisiert und mit Beispielen aus der Sunna untermauert werden. Ziel ist es, ein solides Fundament zu schaffen, um sich dem Thema mit Klarheit, Ehrfurcht und den richtigen Maßstäben zu nähern. Möge Allāh uns aufrichtige Verantwortung, edlen Charakter und dienende Führung schenken und uns alle besser machen. Āmīn.

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